Der Bildhauer
Gedanken von Ingeborg Bauer (Oktober99)

DER BILDHAUER
IN MEMORIAM RONALD HUGHES

Ich allein unter all diesen Menschen, diesen unbekannten Gesichtern, die mir alle verschleiert erscheinen, weil ich sie nicht kenne, nicht ausmachen kann. Es sind feiernde Menschen, Menschen, die diesen Unbekannten posthum mit ihrer Anwesenheit zu ehren gekommen sind. Er selber ist nicht mehr anwesend, nicht mehr als Lebender, der sich entwickeln kann, der überraschen kann, sondern als einer, der sein Atelier verlassen hat und Vollendetes wie Unvollendetes zurückgelassen hat. Er kommt mir einsam vor, allein, wie die menschlichen Figuren, meist aus Bronze, die buchstäblich im Raum stehen, oft klein und verwandt mit etruskischen Grabbeigaben, den Figuren Giacomettis. Sie schreiten durch den Raum, der um sie herum zunimmt, groß wird zum Kosmos und so die Einsamkeit vergrößert. Der Mensch sei sein großes Thema gewesen. Was für ein Mensch war er? Einer, der seinen Weg kannte, diesen Pfad konsequent verfolgte? Einer, der Vertrauen besaß, ein Vertrauen, das ihn als junger Mensch zu einem Menschen von biblischen Vertrauen befähigte, der alles verkaufte, um sich auf den Weg zu machen, nach Europa, und da eines Abends anklopfte bei einem Künstler und um Aufnahme bat, er wolle bei einem Meister arbeiten als Geselle, als Lernender, wie das im Mittelalter gewesen sei. Und sein Vertrauen hat ihm geholfen, die „biblische" Antwort hielt ihn fünf Jahre lang als Gast, schließlich zur Familie gehörig, im Hause des Meisters. Was für ein Mensch muß er gewesen sein, der sich so vertrauensvoll anvertraut!
Offensichtlich war er dennoch nicht auf Anleitung von außen angewiesen. So wie er dem Menschen Vertrauen entgegenbrachte, so vertraute er seinen eigenen Augen, hatte Ariadnes Faden in sich, dem er nun folgte. Oder gab es doch Momente des Zweifels? Kann sich ein Mensch so sicher sein?
Draußen war es dunkel geworden. Doch ab und an erleuchteten vorbeifahrende Züge das Fenster, illuminierten den Raum zwischen den Zweigen des Baumes, die ihr Laub schon angeworfen hatten. Dann gingen die Worte der Sprechenden unter im lauten Geräusch, das die Illuminationskunst untermalte, Pausengewitter, Blitzschläge, die die Lücken in der Lebensgeschichte intonierten, und es gab darin wohl viele. Erschien dieser kurze Abriß doch wie ein poröser Stein, in dem die Lufträume sich gewaltig weiteten, und wo man sich wunderte, daß die Wände standhielten. In diesen Räumen schritten die Figuren mit diesen langen Beinen, diesen den Raum prüfend durchschreitenden Armen. Diese Figuren hatten manchmal die sensibel zerfurchte Außenhaut der Menschen Giacomettis, die einer suchenden Sensibilität entsprach, einer Suche, die nicht zu einem Ende kommen konnte oder wollte. Dann hatte sie wieder die Glätte, die das Geheimnis des einzelnen undurchdringlich machte, die einer Mauer glich, hinter der der Mensch sich verbarg. Andere Versuche versuchten es mit einer kubistischen Zerlegung, einem Aufdröseln des Psychischen. Der Mensch, sich windend, gespreizt, bloß, zur Schau gestellt.
Der Mensch, dessen hier gedacht wurde, der hier gefeiert wurde, war in seinem 60. Jahr verstorben. Welche Rückschlüsse ließen sich aus seinem Werk schließen? Nirgends, auch nicht in den so ansprechenden Zeichnungen weiblicher Akte, die an den Wänden aufgehängt waren, nirgends wurde Natur direkt abgebildet. Immer handelte es isch um den Versuch einer Abbildung des als labyrinthisch empfundenen menschlichen Innern. Die Galeristin sprach von Überforderung als Todesursache, Überforderung des Menschen, Überforderung des Künstlers? Das Unvollendete, Bruchstückhafte, das ein Menschenleben wohl immer darstellt, hatte in der Aufstellung seiner Werke im Raum eine gewisse Vollendung erfahren. Welche Vorstellung habe ich nun von einem Künstler, den ich nie gesehen habe, dessen Grabstein ich nun gewissermaßen gegenüberstehe wie einer Summe seines Lebens. Und doch kann ich nicht sicher sein, ja muß ich annehmen, daß mir Wesentliches entgangen ist. Das rhythmische Sich-Öffnen und sich-Schließen, das der Herzmuskel uns vormacht, hat das Leben dieses Menschen möglicherweise stark geprägt. Ein bescheidenes im-Raume-Stehen und Abwarten, wie dieser Raum es suggeriert, der das Unfertige so vollendet zur Wirkung bringt.