Der Bildhauer
DER BILDHAUER
IN MEMORIAM RONALD HUGHES
Ich allein unter all diesen Menschen, diesen
unbekannten Gesichtern, die mir alle verschleiert erscheinen, weil ich
sie nicht kenne, nicht ausmachen kann. Es sind feiernde Menschen, Menschen,
die diesen Unbekannten posthum mit ihrer Anwesenheit zu ehren gekommen
sind. Er selber ist nicht mehr anwesend, nicht mehr als Lebender, der sich
entwickeln kann, der überraschen kann, sondern als einer, der sein
Atelier verlassen hat und Vollendetes wie Unvollendetes zurückgelassen
hat. Er kommt mir einsam vor, allein, wie die menschlichen Figuren, meist
aus Bronze, die buchstäblich im Raum stehen, oft klein und verwandt
mit etruskischen Grabbeigaben, den Figuren Giacomettis. Sie schreiten durch
den Raum, der um sie herum zunimmt, groß wird zum Kosmos und so die
Einsamkeit vergrößert. Der Mensch sei sein großes Thema
gewesen. Was für ein Mensch war er? Einer, der seinen Weg kannte,
diesen Pfad konsequent verfolgte? Einer, der Vertrauen besaß, ein
Vertrauen, das ihn als junger Mensch zu einem Menschen von biblischen Vertrauen
befähigte, der alles verkaufte, um sich auf den Weg zu machen, nach
Europa, und da eines Abends anklopfte bei einem Künstler und um Aufnahme
bat, er wolle bei einem Meister arbeiten als Geselle, als Lernender, wie
das im Mittelalter gewesen sei. Und sein Vertrauen hat ihm geholfen, die
„biblische" Antwort hielt ihn fünf Jahre lang als Gast, schließlich
zur Familie gehörig, im Hause des Meisters. Was für ein Mensch
muß er gewesen sein, der sich so vertrauensvoll anvertraut!
Offensichtlich war er dennoch nicht auf
Anleitung von außen angewiesen. So wie er dem Menschen Vertrauen
entgegenbrachte, so vertraute er seinen eigenen Augen, hatte Ariadnes Faden
in sich, dem er nun folgte. Oder gab es doch Momente des Zweifels? Kann
sich ein Mensch so sicher sein?
Draußen war es dunkel geworden.
Doch ab und an erleuchteten vorbeifahrende Züge das Fenster, illuminierten
den Raum zwischen den Zweigen des Baumes, die ihr Laub schon angeworfen
hatten. Dann gingen die Worte der Sprechenden unter im lauten Geräusch,
das die Illuminationskunst untermalte, Pausengewitter, Blitzschläge,
die die Lücken in der Lebensgeschichte intonierten, und es gab darin
wohl viele. Erschien dieser kurze Abriß doch wie ein poröser
Stein, in dem die Lufträume sich gewaltig weiteten, und wo man sich
wunderte, daß die Wände standhielten. In diesen Räumen
schritten die Figuren mit diesen langen Beinen, diesen den Raum prüfend
durchschreitenden Armen. Diese Figuren hatten manchmal die sensibel zerfurchte
Außenhaut der Menschen Giacomettis, die einer suchenden Sensibilität
entsprach, einer Suche, die nicht zu einem Ende kommen konnte oder wollte.
Dann hatte sie wieder die Glätte, die das Geheimnis des einzelnen
undurchdringlich machte, die einer Mauer glich, hinter der der Mensch sich
verbarg. Andere Versuche versuchten es mit einer kubistischen Zerlegung,
einem Aufdröseln des Psychischen. Der Mensch, sich windend, gespreizt,
bloß, zur Schau gestellt.
Der Mensch, dessen hier gedacht wurde,
der hier gefeiert wurde, war in seinem 60. Jahr verstorben. Welche Rückschlüsse
ließen sich aus seinem Werk schließen? Nirgends, auch nicht
in den so ansprechenden Zeichnungen weiblicher Akte, die an den Wänden
aufgehängt waren, nirgends wurde Natur direkt abgebildet. Immer handelte
es isch um den Versuch einer Abbildung des als labyrinthisch empfundenen
menschlichen Innern. Die Galeristin sprach von Überforderung als Todesursache,
Überforderung des Menschen, Überforderung des Künstlers?
Das Unvollendete, Bruchstückhafte, das ein Menschenleben wohl immer
darstellt, hatte in der Aufstellung seiner Werke im Raum eine gewisse Vollendung
erfahren. Welche Vorstellung habe ich nun von einem Künstler, den
ich nie gesehen habe, dessen Grabstein ich nun gewissermaßen gegenüberstehe
wie einer Summe seines Lebens. Und doch kann ich nicht sicher sein, ja
muß ich annehmen, daß mir Wesentliches entgangen ist. Das rhythmische
Sich-Öffnen und sich-Schließen, das der Herzmuskel uns vormacht,
hat das Leben dieses Menschen möglicherweise stark geprägt. Ein
bescheidenes im-Raume-Stehen und Abwarten, wie dieser Raum es suggeriert,
der das Unfertige so vollendet zur Wirkung bringt.