AUSSTELLUNG / Der Stuttgarter Kunstprofessor Dieter Groß zeigt in der Göppinger Galerie Kränzl sein "tägliches Panoptikum"
Selbstportraits als intime Dokumente des eigenen Befindens
Im Schnitt dauert es zwanzig Minuten, das Porträt, das der Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, Dieter Groß seit mehr als 16 Jahren tagtäglich von seinem eige-nen Konterfei fertigt. Die Ga-lerie Kränzl zeigt davon eine beeindruckende Sammlung.
MARLIES BIRKLE-HOSS
Es hat etwas Faszinierendes, in ei-nem
Raum zu stehen, der von oben bis unten und von links nach rechts (so, wie
gelesen wird) mit Selbstporträts bestückt ist. Zumal diese Porträts
ohne Rahmen und Glas jeweils nur mit zwei Stecknadeln befestigt sind und
so - wenn auch absichtslos - nach hinten kippende Wände suggerieren.
Dieser Porträt-Raum in der Galerie
Kränzl ist Ergebnis eines tagtäglich praktizierten Rituals, das
den Blick in den Spiegel zum Ausgangspunkt macht. Ein solcher Blick
kann zunächst alles Mögliche sein: narzisstische Selbstbespiegelung,
welche die Sicht auf die Welt verstellt, er kann Weltschmerz oder Selbstekel
auslösen. Aber Dieter Groß hat andere Absichten, die sich
auch nicht mit den grotesken Überzeichnungen etwa eines Horst Janssen
decken. Selbst wenn man es zunächst meinen könnte.
Schließlich zeigen die meisten seiner Porträts einen zerknitterten,
einen grübelnden oder kritischen und meist konzentriert nach unten
blickenden Zeitgenossen. Kein Wunder, dass mancher Vernissage-Gast
den Künstler in Natura nicht wiedererkannte, hatte er doch allen Augenschein
nach herzlich wenig mit dem grantigen Skeptiker seiner Zeichnungen zu tun.
Der 1937 in Stuttgart geborene Dieter
Groß zeichnet zwar gerne mit scharfer satirischer Feder (bzw. hauptsächlich
mit dem Bleistift), bleibt dabei aber humorvoll und rutscht nie ins Sarkastische
ab, was auch in seinen anderen Zeichnungen samt den Schattenbildern im
hinteren Raum zu sehen ist. Hier und da liegt der Witz im haargenauen
Detail und im klaren Strich.
In den Selbstporträts dagegen wird
gestrichelt. Der Blick geht nach innen, bringt den Moment der Reflexion
zum, Ausdruck, ist eine Art Meditation, welche die Befindlichkeit des Selbst
klärt und somit die Funktion eines Korrektivs einnimmt. Groß
erfindet weniger, als dass er mit Vorgefundenem arbeitet. Und auch
hier ist die Zeichnung als freieste und zugleich genaueste Form innerhalb
der Bildenden Kunst verwandt mit dem Schreiben, was die Intimität
des Selbst-Ausdrucks anbetrifft. Die schonungslose Ehrlichkeit und
die überspitzte Übersetzung des eigenen Befindens macht die Selbstporträts
zu intimen Dokumenten. Genau 640 Mal können wir sie an den vier
Wänden bewundem, diese Bildnisse, die jeweils zu Tagebeginn oder bei
Tagesende entstehen. Sie zeigen nur einen Ausschnitt von 5552 Selbstbildnissen,
mit denen Dieter Groß seit dem 27. Dezember 1985 begonnen hat und
die er zusätzlich in zwei Büchern vorstellt. Der Reiz dieser
Selbstporträts liegt gerade im Ineinandergehen von ständiger
Wiederholung und Variation.